Lützerath – Ein Blick in den Abgrund jahrelang verfehlter Klimapolitik

Auch wenn die Räumung nun abgeschlossen ist, die gesellschaftliche und politische Aufarbeitung der Causa Lützerath wird wahrscheinlich noch Monate dauern. In den aktuell hitzig geführten Debatten rund um das kleine Dorf im rheinischen Braunkohlerevier droht allerdings unterzugehen, wie es überhaupt so weit kommen konnte.

Die Fotos aus dem kleinen Lützerath gingen um die Welt. Klimaaktivist:innen, unter ihnen auch Greta Thunberg und Luisa Neubauer, und Polizeikräfte stehen sich gegenüber. Demonstrierende werden abgeführt, während hungrige Schaufelradbagger Kubikmeter um Kubikmeter Erde abtragen und vormaligen Ackerboden in eine unwirkliche Mondlandschaft verwandeln.

Bilder für den Geschichtsunterricht

Das wohl bezeichnendste Bild aus diesen ersten zwei Januarwochen? Für mich, trotz der umfassenden Berichterstattung zur Räumung und der Großdemonstration am 14.01., ohne Zweifel noch immer der Schnappschuss von Michael Michusch vom Abend des 4. Januar: Drei Polizisten einer Hundertschaft, bewehrt mit Helm und Schild, stehen nur einige Schritte vor der Abbruchkante des Tagebaus. In ihrem Rücken frisst sich der Schaufelradbagger im dämmrigen Licht seiner Scheinwerfer unaufhörlich vorwärts.

Die Aussage könnte klarer kaum sein: Die Staatsgewalt stellt sich schützend vor die Kohleindustrie. Ob nun zur Gewährleistung der Energiesicherheit in einer Energiekrise, wie die einen sagen, oder zur Stillung der Profitgier des Energieriesen RWE, wie andere überzeugt sind, ist jedoch nur scheinbar von Bedeutung. Es geht in Lützerath nicht darum, eine Handvoll Gebäude vor dem Abriss zu schützen – RWEs Bagger haben den Lebensraum vor Ort schon zerstört.

Lützerath zeigt das politische Versagen seit 2005

Nein, es geht um etwas viel Grundlegenderes: die Verschleppung und Blockade der Energiewende in den letzten rund 20 Jahren und darum, wie politische Verfehlungen das Einhalten der 1,5-Grad-Grenze bei gleichzeitiger Sicherung der Energieversorgung fast unmöglich machten.

Lützerath und die vielen anderen deutschlandweit bereits abgebaggerten Dörfer wurden nicht 2021 oder 2022 verraten und verkauft. Dass die Gemengelage heute eine Braunkohleförderung überhaupt noch sinnhaft erscheinen lässt, liegt an einer allzu ambitionsarmen Klima- und Energiewendepolitik in Bund und Ländern seit der Jahrtausendwende. Wir hatten Zeit, wir hatten Chancen und eine Regierung nach der anderen hat – besonders nach 2005 – immer und immer wieder das Klima und die Energiewende hintangestellt: 2012 trieb Schwarz-Gelb die florierende und global führende deutsche Solarbranche in den Ruin, um eine Handvoll Kohlejobs zu sichern – die Folgen merken wir bis heute. Konservative Landesregierungen in der ganzen Republik erschwerten durch bürokratische Hindernisse den Zubau von Erneuerbaren – statt sechs Monaten wie im Jahr 2000 dauert es nun durchschnittlich sieben Jahre, eine Windkraftanlage zu realisieren.

2020 dann der „Paukenschlag“: Deutschland steigt aus der Kohleverstromung aus, aber erst 2038. Der dem Ausstiegsgesetz zugrundeliegende Kompromiss der sogenannten „Kohlekommission“ von 2019 war seinerzeit sicher ein Verhandlungserfolg, er erweist sich aber aus heutiger Sicht als Bürde. Sich auf Rechtsgrundlagen berufend konnten Unternehmen wie RWE nun „guten Gewissens“ für fast zwei weitere Jahrzehnte planen. Die Klimabewegung hingegen musste fortan auch noch gegen geltendes Gesetz ankämpfen. Man kann nicht anders, als von einem klimapolitischen Kollektiv-Versagen der Landes- und Bundesregierungen der letzten 20 Jahre zu sprechen. In Lützerath kulminiert nun dieses Versagen und neben den Abbruchkanten bröckeln auch die Chancen für das Einhalten deutscher Klimaziele.

naturstrom in Lützerath

Mit der Abbaggerung verliert naturstrom auch zwei Kund:innen: Als die Bagger RWEs Anfang Dezember 2022 die Stromversorgung des Weilers kappten und uns so daran hinderten, zwei Häuser mit Ökostrom zu beliefern, machten sich drei Kolleg:innen kurzerhand selbst auf den Weg. Die mitgebrachten Autobatterien, Wechselrichter und Powerbanks konnten das zerstörte Stromnetz zwar freilich nicht ersetzen, laut den Aktivist:innen aber dennoch helfen.

Tim Loppe und Martin Schinke von naturstrom sprechen mit Lützeraner Jonas. © naturstrom

Was jetzt zählt, sind Taten

Mit den Eindrücken aus Lützerath im Hinterkopf kommt es nun darauf an, die aktuelle Energiekrise als Sprungbrett für die Energiewende zu begreifen – und nicht noch länger fossile Strukturen zu stützen. 2022 wurde energiepolitisch für den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren einiges erreicht, die von Kanzler Scholz beschworene „neue Deutschland-Geschwindigkeit“ war jedoch bislang nur beim Aufbau von LNG-Infrastruktur zu bestaunen.

Je schneller die günstigen Erneuerbaren ausgebaut werden, desto mehr Kohle wird im Boden bleiben – allein schon aus marktlichen Gründen. Was jetzt zählt, sind

● deutlich schnellere Genehmigungsverfahren, vor allem für Windenergieprojekte,
● mehr Flächen, auf denen Ökostromanlagen unkompliziert errichtet werden können,
● ein beherzter Bürokratieabbau und
● eine Mentalität des Anpackens, von den Unternehmen über die Politik bis hinein in die Behörden.

Es gilt, am 1,5-Grad-Ziel festzuhalten und in einem beispiellosen Marathon endlich Versäumtes aufzuholen.

Finn Rohrbeck
finn.rohrbeck@naturstrom.de

unterstützt seit Juni 2022 das Presseteam bei naturstrom. Zuvor arbeitete er im Veranstaltungsmanagement der Verbraucherzentrale NRW und beschäftigte sich dort mit den Themen Energie und Energieberatung.

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