Energiecharta – sinnvolle Spielregeln für Energieinvestitionen oder widerrechtlicher Klimaschutz-Torpedo?

Bestimmt habt ihr es mitbekommen: Deutschland will aus dem Energiecharta-Vertrag austreten. Frankreich, Polen, Spanien, die Niederlande und einige weitere Staaten haben das ebenfalls angekündigt oder haben den Austritt bereits in die Wege geleitet . Aber was ist die Energiecharta überhaupt – und warum wollen gerade alle raus? Wir verraten es euch.

Zunächst die Basics und ein klein wenig Geschichte: Der Energiecharta-Vertrag (englisch Energy Charter Treaty, ECT) ist ein internationaler Handelsvertrag, der Investitionen im Energiesektor absichern soll. Der ursprüngliche Grund? Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sollten Investments in Staaten mit (noch) unsicherer Rechtslage, vor allem in Osteuropa und Zentralasien, rechtlich wie finanziell abgesichert werden – zum Wohle der Investoren, aber auch der jeweiligen Länder. Die Charta schrieb daher Prinzipien der internationalen Energiebeziehungen hinsichtlich Energiehandel und -transit sowie entsprechenden Investitionen fest. Rund 50 Mitgliedsländer sind seitdem dem Abkommen beigetreten. Aktuell sollte der Vertrag reformiert werden, nicht zuletzt für mehr Klimaschutz-Berücksichtigung.

Wie funktioniert der ECT?

Der ECT gibt Unternehmen einen vertraglich garantierten Rechtsschutz, mit dem sie sich gegen unliebsame politische Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten wehren können, wenn sie ihre Investitionen gefährdet sehen. Möchte ein Staat also beispielsweise Energiegesetze ändern oder Energieinfrastruktur (teil-)verstaatlichen, haben die Unternehmen durch den Energiecharta-Vertrag die Möglichkeit, Regierungen auf Schadensersatz für verlorengegangene Investitionen und prognostizierte Gewinne zu verklagen. Verhandelt werden solche Fälle dann vor internationalen Schiedsgerichten, die über den Vertrag konstituiert werden und oft in den USA ansässig sind. Investitionen im Energiesektor genießen dadurch einen besonderen Schutz, da sich Staaten eben auch an die Vereinbarungen des Vertrags halten müssen und im Falle eines von den Gerichten festgestellten Verstoßes hohe Schadensersatzzahlungen der Staaten an die Unternehmen fällig werden.

Paralleljustiz am EU-Recht vorbei – was den Energiecharta-Vertrag rechtlich angreifbar macht

Umstritten ist der ECT schon seit Langem – und das aus vielen Gründen. 2021  erhielt ein zentraler Kritikpunkt durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) neuen Aufwind: Dieser hatte festgestellt, dass die Energiecharta für EU-interne Streitigkeiten unwirksam und in diesen Fällen nicht mit der EU-Rechtsordnung vereinbar sei. Tatsächlich handelt es sich jedoch bei mehr als 70 Prozent der Streitigkeiten um genau solche – also unzulässigen – Klagen von EU-Investoren gegen EU-Staaten.

Da sich jedoch die wenigsten Schiedsgerichte diesem Urteil beugen und an den Verfahren festhalten, führt der ECT hier zu einer Paralleljustiz, die die eigentlich funktionierenden Rechtssysteme in der EU und den einzelnen Nationalstaaten unterläuft. Wenn sich Unternehmen also von klimapolitischen Entscheidungen benachteiligt sehen, können sie einem ECT-Schiedsgericht „klagen“ – und Staaten werden außerhalb des europäischen Rechtsrahmens zu Zahlungen verurteilt. Insbesondere multinationale Konzerne mit großen und langfristigen Investitionen in fossile Energien nutzen dieses Recht – und kassieren bei Schiedssprüchen Milliarden Euro hohe Steuergelder.

Klimaschädlich und teuer – was bedeutet der ECT für die europäische Energiewende?

Klimaschutz erfordert Transformation – und damit auch eine wirksame Umgestaltung unserer rechtlichen Rahmenbedingungen bei Energieerzeugung und -verbrauch. Die stete Gefahr, bei entsprechenden Änderungen des Rechtsrahmens besonders von der fossilen Energiewirtschaft auf horrende Summen verklagt zu werden, hemmte in der Vergangenheit eine ambitionierte Gesetzgebung zur Treibhausgasminderung. Gemäß des ECT können Energieunternehmen nämlich viele regulatorische und politische Eingriffe in das bestehende – und oft fossile – Energiesystem als Angriff auf ihre getätigten Investitionen auslegen und Schadensersatz einfordern. Und das tun sie auch: 2020 verklagte RWE den niederländischen Staat auf 1,4 Milliarden Euro, da der dortige Kohleausstieg auf 2030 vorgezogen werden sollte und das prognostizierte Gewinne des Unternehmens beschneide. 2016 erhob Vattenfall Anklage gegen die Bundesregierung und forderte wegen des Atomausstiegs 4,7 Milliarden Euro als Kompensation für zwei abzuschaltende AKW. Schon diese beiden Beispiele zeigen, wie Unternehmen durch ihre Klagen versuchen können, die Klima- und Energiepolitik souveräner Staaten in ihrem Sinne zu beeinflussen. Insgesamt ordneten Schiedsgerichte bereits Strafzahlungen in Höhe von über 45 Milliarden Euro an, die Staaten an Energieunternehmen leisten mussten.

Die Angst der ECT-Mitgliedsländer, von Konzernen verklagt zu werden, ist also durchaus berechtigt. Bereits die Androhung einer Klage führte daher schon oft dazu, dass Regierungen Gesetzesvorhaben abschwächten oder sogar zurücknahmen. So sieht das Corporate Europe Observatory im ECT zum Beispiel den Grund für die horrenden Stilllegungsprämien für deutsche Kohlekraftwerke im Rahmen des Kohleausstiegs. Mit diesen und anderen entgegenkommenden Maßnahmen habe sich die Bundesregierung vor teuren Klagen schützen wollen.

Umwelt- und Klimaverbände kritisieren die Energiecharta daher vehement als Klimakiller und sind skeptisch, ob das Vertragswerk mit den Pariser Klimazielen in Einklang gebracht und reformiert werden kann. Angesichts der Herausforderungen und der gebotenen Eile hat sich der ECT in der Vergangenheit schlicht als zu großes Hemmnis für die europäischen Energiewende erwiesen, weshalb auch die aktuell diskutierte Überarbeitung vielen Beobachter:innen viel zu kurz gesprungen erscheint.

Revolte gegen die Energiecharta – und dann?

Angesichts der harschen Kritik und der enormen Summen, auf die Rechtsstaaten wegen ihrer Energiepolitik verklagt wurden, verwundert es nicht, dass nun immer mehr Staaten aus der Charta aussteigen.

Ein Problem und für manche Länder ein Grund, den Vertrag noch nicht aufzukündigen: Durch die sogenannte „Sunset“- oder auch „Zombie“-Klausel sind Klagen auch noch bis zu 20 Jahre nach offiziellem Austritt eines Landes möglich, wenn Unternehmen ihre Investments als bedroht ansehen. So geschehen in Italien, das bereits 2016 aus dem Vertrag ausgestiegen war, aber dennoch von einem britischen Öl- und Gasunternehmen verklagt wurde. Ein Schiedsgericht verurteilte die italienische Regierung dieses Jahr zu einer Strafzahlung in Höhe von 250 Millionen Euro, da das Land 2015 Ölbohrungen vor seiner Küste verboten hatte und dem Unternehmen so ein Schaden in Form eines entgangenen Gewinns entstanden sei. Trotz dieser Abschreckung sehen die vielen Länder, die nun austreten wollen, offensichtlich mehr Gewinn in einer Welt ohne ECT als in der vorgeschlagenen Überarbeitung – selbst wenn die volle Handlungsfreiheit erst in 20 Jahren wiedererlangt wird.

Handelsabkommen statt Charta-Vertrag

Deutschland hat sich nun vor Kurzem in die illustre Versammlung der ECT-Verlasser einsortiert. Nach dem Mitte November erklärten Plan der Ampelkoalition, trotz der Renovierung aus der Energiecharta auszutreten, sollen stattdessen neue Handelsabkommen Investitionen im aufgewühlten Energiemarkt absichern. So sollen das Freihandelsabkommen „CETA“ zwischen der EU und Kanada sowie bi- und trilaterale Verträge mit Chile, Mexiko und vor allem den USA die Investitions-Absicherungsfunktion der Charta übernehmen.

Zum Glück scheinen die Regierungen Lehren aus der Energiecharta gezogen zu haben: Ein Recht auf Klage besteht nur noch in drastischen Fällen wie Enteignungen, während regulatorische Maßnahmen, die für Unternehmen Nachteile bedeuten, dabei nicht beklagt werden können sollen.

Trotz der Austritte zahlreicher EU-Staaten wird die Energiecharta jedoch durch die Zombieklausel auch weiterhin eine Rolle im europäischen Energiemarkt spielen. Erst wenn die EU und alle ihre Mitgliedsländer den Vertrag aufkündigen, wäre ein Umgehen der Klausel möglich.

Auch hinsichtlich der anstehenden Handelsabkommen ist noch unklar, wie viel diese schlussendlich zum Klimaschutz beitragen werden – oder ob sie sich ebenfalls als Vertragswerke mit Klimasünder-Potenzial entpuppen.

Finn Rohrbeck
finn.rohrbeck@naturstrom.de

unterstützt seit Juni 2022 das Presseteam bei naturstrom. Zuvor arbeitete er im Veranstaltungsmanagement der Verbraucherzentrale NRW und beschäftigte sich dort mit den Themen Energie und Energieberatung.

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