Von hier an kein Zurück? Kipppunkte im Klimawandel

„Grönlands Eisschild droht zu kippen“, „Wenn dem Regenwald der Regen ausgeht“, „Waldsterben 2.0 – Der deutsche Wald trocknet aus“, „Versauerung der Ozeane: Kalkschalen von Meeresbewohnern werden immer dünner“ – diese und ähnliche Nachrichten zu den Auswirkungen der Klimakrise lesen wir fast täglich. Der Zusammenhang ist klar: Die menschengemachte Klimaerhitzung setzt Natur und Umwelt zu und verursacht teils irreparable Schäden. Einiges können wir retten, anderes nicht. Haben wir erst eine kritische Schwelle erreicht, also die sogenannten Kipppunkte im Klima- und Ökosystem überschritten, gibt es kein Zurück mehr. Wir erklären, was Kipppunkte sind und welche Folgen drohen.

Lange sind wir davon ausgegangen, dass sich unser Klimasystem quasi linear, stetig und allmählich verändert. Mit jedem Grad zusätzlicher Erderwärmung verschlechtert sich demnach der Zustand in einer gleichmäßigen Entwicklung. Dem ist aber nicht so, wie einige Wissenschaftler:innen, allen voran Joachim Schellnhuber, bereits um das Jahr 2000 erstmals zeigten.

Das Klima kann sich sprunghaft verändern. Dabei reicht der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt – nur, dass wir dieses Überlaufen nicht mehr kontrollieren oder gar stoppen können, wenn der Tropfen erst einmal ins Fallen kommt. Das hängt mit den sogenannten Kipppunkten oder Kippelementen im Erdklimasystem zusammen. Ist das Fass erstmal an den Rand des Fassungsvermögens gebracht, bringt jeder weitere Zulauf, und sei er noch so klein, den „point of no return“, also schnelle und unumkehrbare (und sich teilweise selbstverstärkende) Veränderungen und Kettenreaktionen. In der Wissenschaft spricht man auch von „klimatischen Rückkopplungsprozessen“. Kippelemente sind beispielsweise das Versiegen des Golfstroms, das Abschmelzen der Eisschilde oder das Austrocknen des Regenwaldes.

Kipppunkte einfach erklärt
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung definiert Kipppunkte folgendermaßen: „Einige Teile des Erdsystems weisen ein Schwellenverhalten auf: Werden sie durch den menschgemachten Klimawandel über ihre jeweilige kritische Grenze hinaus belastet, kann es zu starken und teils unaufhaltsamen und unumkehrbaren Veränderungen kommen – sie kippen um, vereinfacht gesagt. Zu den Kippelementen im Klimasystem zählen etwa die Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis, die große Umwälzströmung im Atlantik, und die Permafrostböden. Bereits das Überschreiten einzelner Kipppunkte hätte Umweltauswirkungen, die die Lebensgrundlage vieler Menschen gefährdet. Zudem besteht das Risiko einer dominoartigen Kettenreaktion – eine solche ‚Kipp-Kaskade ‘ würde die Gesamtstabilität unseres Erdsystems beeinträchtigen“.

Was sind Kipppunkte im Klimasystem?

Die Kippelemente lassen sich laut dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in drei Kategorien einteilen:

  • Eiskörper,
  • Strömungs- bzw. Zirkulationssysteme der Ozeane und der Atmosphäre,
  • bedrohte Ökosysteme

Eiskörper als Kippelemente

Aufgrund der schnellen Erhitzung der globalen Temperaturen schmelzen selbst dicke Eisschichten. Dann kommt es zu einem klassischen Rückkopplungsmechanismus, der sogenannten Eis-Albedo-Rückkopplung. Dieser selbstverstärkende Prozess läuft folgendermaßen ab: Das helle, reflektierende Eis schwindet und lässt eine dunkle Fläche, meist Felsen oder das Meer, an seiner Stelle zurück. Die so freigelegte Oberfläche nimmt mehr Sonnenwärme auf, was wiederum zu schneller ansteigenden Temperaturen und dem stärkeren Schmelzen des Eises führt – und dann geht das Ganze von vorne los. Ein und dasselbe Phänomen ist sowohl Folge als auch Ursache der lokalen Temperaturerhöhung. Es gibt auch noch weitere Mechanismen, die große Eismassen zu Kippelementen machen:

Verlust des Grönland-Eispanzers
Das Grönlandeis ist stellenweise drei Kilometer dick! Durch die wärmeren Temperaturen kam es in den letzten Jahren zu immer mehr Eisverlust durch ins Meer fließende Gletscher. Befindet sich die Oberfläche derzeit noch in hohen und damit kalten Luftschichten, schmilzt sie jetzt immer weiter ab und wird damit wärmeren Temperaturen ausgesetzt. Forschende schätzen, dass der Kipppunkt des vollständigen Abschmelzens schon bei einer globalen Erwärmung von knapp 2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau (aktuell sind wir bereits bei ca. 1,2°C!) erreicht werden könnte und bei höheren Temperaturen zu einem Anstieg des Meeresspiegels von bis zu sieben Metern führen könnte.

Auftauen der arktischen Permafrostböden
Die arktischen Perma- oder Dauerfrostböden sind seit Jahrtausenden gefrorene Schichten, verteilt überall in Sibirien und Nordamerika. In den obersten drei Metern allein sind um die Tausend Milliarden Tonnen Kohlenstoff gespeichert, die beim Auftauen große Mengen an Kohlenstoffdioxid und Methan freisetzen könnten. Die Arktis ist einer zweieinhalbmal schnelleren Erwärmung im Vergleich zum globalen Mittel ausgesetzt. Daher sind selbstverstärkende Prozesse wie die Zersetzung dieser gespeicherten Kohlenstoffverbindungen durch Mikroorganismen besonders gravierend – die ursprüngliche Einlagerung hat sich über viele Jahrtausende hingezogen, die Zersetzungsprozesse laufen über wenige Jahrhunderte oder gar nur Jahrzehnte. Das globale Ökosystem hat also keine Chance, sich dieser drastischen Veränderung anzupassen.

Methan-Ausgasung aus den Ozeanen
Im arktischen Meeresboden, besonders in Ostsibirien, ist eine Menge an organischem Kohlenstoff, das sogenannte Methanhydrat, gespeichert. Wie viel dort lagert, können Wissenschaftler:innen nur schätzen. Methanhydrate bauen sich schon seit langer Zeit langsam durch die Wärmezufuhr aus dem Meerwasser ab und gelten als eher träges Kippelement. Methan ist laut dem Max-Planck-Institut das schädlichere Treibhausgas im Vergleich zu CO2 – es ist 21-mal wirkungsvoller als Kohlendioxid, kommt aber in der Atmosphäre in sehr viel geringeren Mengen vor. Heutzutage ist Methan allerdings überwiegend biogenen Ursprungs, das heißt, dass es durch Emissionen der Nahrungsmittelherstellung (Reisanbau, Massentierhaltung) in die Atmosphäre gelangt.

Zirkulationssysteme als Kippelemente

Auf unserem Planeten gibt es große Muster von Luft- und Meeresströmungen, die natürlichen Schwankungen unterliegen. In der Klimageschichte gab es bereits zahlreiche Umbrüche. Zukünftig werden wir es allerdings mit möglicherweise sehr abrupten Veränderungen der Strömungssysteme zu tun haben. Zwei drohende und besonders gravierende Veränderungen könnten zum Beispiel sein:

Abschwächung der atlantischen thermohalinen Zirkulation
Vom Golfstrom, der verantwortlich ist für das milde Klima in Europa, haben wir alle schon gehört. Und eine ungefähre Vorstellung, was passiert, wenn er „versiegt“, haben wir dank gewisser Katastrophen-Filme auch. Tatsächlich wurde bereits eine Abschwächung von 15 Prozent nachgewiesen. Die Strömungen des Atlantiks stellen laut PIK ein „gewaltiges Energieförderband“ dar, in dem warmes Wasser an der Oberfläche Richtung Norden und nach dem Abkühlen und Absinken zurück in den Süden transportiert wird. Motor für die Strömungen ist die thermohaline Zirkulation, also das Zusammenspiel zwischen dem kalten, dichten (und damit schweren) Salzwasser, welches vor Grönland in die Tiefe sinkt, und Süßwasser-Strömungen. Strömt durch schmelzendes Eis im Norden (Arktis, Grönland) mehr Süßwasser (mit geringerer Dichte) zu, könnte sich die Tiefenwasserbildung abschwächen und dieser Antrieb erlahmen. Die Folgen? Das Ganze kann sich auf marine Ökosysteme auswirken, der Nordatlantik-Raum könnte sich abkühlen und so den Meeresspiegelanstieg insbesondere an der US-amerikanischen Atlantikküste verstärken.

Verlagerung des Monsuns in Westafrika mit Auswirkung auf die Sahara
Monsune treten überall auf der Welt auf, neben Indien gibt es auch in Afrika Monsun-Zeiten. Bei diesem Beispiel für ein Kippelement werden die globalen Zusammenhänge und die immensen potenziellen Veränderungen deutlich. Durch die Veränderung der Bodenfeuchte, Vegetation und Luftströme in der Atmosphäre könnten sich die Monsunregenfälle verschieben. Würden sich Niederschläge in der Sahelzone erhöhen, würde die Sahara ergrünen. Was zunächst einmal positiv klingt, könnte auch negative Folgen haben. Denn bislang wird Wüstenstaub über Stürme über den Atlantik transportiert und versorgt Korallenriffe in der Karibik und sogar den Amazonasregenwald mit Nährstoffen. Fehlt diese Quelle an Sand, fehlen in anderen Teilen der Welt die Nährstoffe. Ein sensibler und nicht auf den ersten Blick erkennbarer Kreislauf würde außer Balance gebracht.

Ökosysteme

Ökosysteme pendeln sich über einen langen Zeitraum ein. Aufgrund natürlicher klimatischer Änderungen sind viele Pflanzen- und Tierarten mehr oder weniger gut an ihre Umwelt angepasst. Wenn sich die Umweltbedingungen allerdings, wie jetzt beim menschengemachten Klimawandel, zu schnell verändern, können sich Pflanzen und Tiere nicht halten. Geeignete Lebensräume werden ohnehin in der heute zum größten Teil vom Menschen beanspruchten Welt immer seltener. Welche großen Ökosysteme unseres Planeten von Kipppunkt-Szenarien betroffen sind, skizzieren wir im Folgenden.

Amazonas-Regenwald
Immerhin circa ein Viertel des weltweiten Kohlenstoff-Austausches zwischen Atmosphäre und Biosphäre findet im Amazonas-Regenwald statt. Durch Rückgang der Niederschläge, Abholzung ganzer Landstriche sowie Waldbrände verändert sich der natürliche Kreislauf des Ökosystems Amazonas. Der Regenwald wird auch als „Lunge der Welt“ bezeichnet, da er große Mengen Kohlenstoff speichert und Sauerstoff an die Atmosphäre gibt. Mit dem Verschwinden des Regenwaldes geht also nicht nur wichtige Biodiversität verloren, sondern auch noch die Kapazität, CO2 zu binden und somit die Erderwärmung aufzuhalten.

Nordische Nadelwälder (Borealwälder)
Nicht nur der Amazonas leistet einen wichtigen Beitrag für den Kohlenstoff-Kreislauf. Auch große Flächen von Borealwäldern sind vom Klimawandel betroffen. Diese nordischen Nadelwälder umfassen immerhin fast ein Drittel der weltweiten Waldfläche. Mit dem Klimawandel kommt es vermehrt zu Pflanzenschädlingen, Feuern und Stürmen, während gleichzeitig ihre Regeneration durch Wassermangel, erhöhte Verdunstung und menschliche Nutzung beeinträchtigt wird. Aufgrund der hohen Belastung könnten bald nur noch Graslandschaften an ihrer Stelle stehen. So wäre nicht nur der Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen betroffen, sondern es würden außerdem riesige Mengen an Kohlendioxid freigesetzt werden.

Korallenriffe
Durch die Versauerung der Ozeane und Temperaturschwankungen leiden die empfindlichen Ökosysteme Korallenriffe weltweit. Durch die Erwärmung des Wassers kommt es zur sogenannten „Korallenbleiche“ – die Korallen stoßen nach und nach Algen ab und sterben so aus. Selbst bei einem Einhalten der 2°C-Grenze rechnen Forschende mit dem Verlust eines Großteils der Korallenriffe. Im Great Barrier Reef vor Australien beispielsweise sind nur noch neun Prozent der Korallen von diesem Prozess verschont geblieben.

Algen – die marine Kohlenstoffpumpe
Unsere Weltmeere sind wahre Kohlenstoff-Schlucker und damit wichtige Komponenten in unserem bislang gut ausbalancierten Weltklima. Laut PIK wurden so sogar schon rund 40 Prozent der bisherigen anthropogenen CO2-Emissionen der Atmosphäre wieder entzogen. Ein großer Teil des Kohlenstoffdioxids wird von Algen zum Wachstum genutzt und sinkt nach deren Absterben in die Tiefsee, wo der Kohlenstoff gespeichert wird. Diese sogenannte marine biologische Kohlenstoffpumpe ist durch die ansteigenden Temperaturen gefährdet.

Die Crux mit den CO2-Emissionen

2020 wurden laut dem Global Carbon Project weltweit 34 Gigatonnen CO2 emittiert. Das noch verbleibende Restbudget an CO2, das wir maximal ausstoßen dürfen, um das Pariser Klimaziel von 1,5°C Erwärmung einzuhalten, schwindet immer mehr. Im renommierten Magazin nature berechnete ein Forscher:innenteam um Joeri Rogelj, dass uns noch 480 Gigatonnen CO2 für eine fünfzigprozentige Chance bleiben, die globale Klimaerwärmung auf 1,5°C zu limitieren. Sie machen außerdem deutlich, dass auch andere Treibhausgase, allen voran Methan, in Betracht gezogen werden müssen – und eben die Unsicherheit der Kippelemente.

Aber trotz aller dramatischen Bedrohungen der Klimakrise gibt es auch hoffungsvolle Entwicklungen! Was Kritiker:innen beispielsweise vor einigen Jahren noch nicht für möglich gehalten hätten: Im Jahr 2020 haben die Erneuerbaren Energien rund die Hälfte des Stroms in Deutschland produziert. Nur mit einem Energiesystem, das auf Erneuerbaren Energien beruht, können wir unsere CO2-Emissionen ausreichend reduzieren, um die Klimaerhitzung zu bremsen und so die Kipppunkte vielleicht noch abzuwenden. Als größter unabhängiger Ökostrom-Anbieter Deutschlands tut NATURSTROM seinen Teil – aber wir müssen alle mit anpacken.

Jetzt nur nicht verzagen

Auch wenn sich einige der beschriebenen Szenarien nicht bewahrheiten sollten, ist die Erforschung von Kipppunkten sehr wichtig, um drohende Gefahren rechtzeitig zu erkennen oder sogar noch zu verhindern. Mit dieser Angst im Nacken werden wir vielleicht auch endlich zum Handeln getrieben, Politiker:innen zu mutigen Entscheidungen gezwungen, Unternehmen in die Verantwortung genommen und Mitmenschen animiert, sich für das Thema Klimawandel zu interessieren und ihren Teil zur Lösung beizutragen.

Ein wichtiges Signal gab es bereits im April, als das Verfassungsgericht in einem historischen Beschluss bekannt gab, dass sich die Regierung nicht im Hier und Jetzt ausruhen und die ganze notwendige Treibhausgas-Reduktionslast verschieben und so den jüngeren Generationen aufbürden darf.

Auch wenn diese Szenarien ein düsteres Bild für die Zukunft der Menschheit zeichnen, sollten wir nicht verzweifeln. Klimaschutz ist eine globale Herausforderung, die unser aller Anstrengung, Mut und Optimismus benötigt. Die Fridays-for-Future-Bewegung macht auf die Probleme aufmerksam und fordert verbindliche Maßnahmen zur Eindämmung der Erhitzung. Viele Staaten der Welt haben das Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichnet und sich dazu verpflichtet, politische Instrumente wie der CO2-Preis greifen bereits. Wir brauchen jetzt alle Kräfte, die wir bekommen können, um zumindest weniger Tropfen in das schon übervolle Fass zu befördern und so ein komplettes Umkippen noch zu verhindern.

Das Gute: Politisch kippt gerade schon einiges in die richtige Richtung, weltweit machen Staaten immer weiterreichende Klimaschutzversprechen und CO2-freie Erneuerbare Energien sind längst die günstigsten Energiequellen. Auch wenn das bisher noch viele Ziele sind und die Maßnahmen fehlen bzw. erst in den kommenden Jahren wirksam werden: Noch ist es nicht zu spät – noch.

Joanna Albrecht
joanna.albrecht@naturstrom.de

unterstützte das PR-Team von naturstrom bis Dezember 2021, jongliert aber schon etwas länger beruflich mit Energiethemen. Ihr Herz schlägt Grün (und für Tiere). Sie mag Waldspaziergänge, Gärtnern und den Teamsport Ultimate Frisbee.

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